~~ CHRISTLICH - SOZIALE POSITION ~~ ~~~ ~~~ INITIATIVE MENSCH & ARBEIT ~~~~~~~~~~~~~

"Wir lebten in einer Frivolitätsepoche"


Philosoph Peter Sloterdijk

In einem Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung 29./30. November 2008 (Nr. 280)

"(Auszug)... In den frühen Jahrhunderten der Globalisierung war der Schiffbruch der Inbegriff der Kapitalvernichtung. Man schickte Schiffe auf den Ozean, von denen man wußte, daß sie unter einem enormen Havarierisiko segeln. Bis heute läßt sich die Denkfigur des "return on investment" auch nautisch darstellen. Ihr liegt die Vorstellung zugrunde, daß die entsandten Schiffe mit reichen Schätzen beladen zurückkehren: Das Geld läuft um die Erde und kommt vermehrt wieder an seinen Ausgangspunkt an. Darum steht der klassische Unternehmer am Hafen und schaut in den Risikoraum hinaus. Der große Profit hängt am schwimmenden Kapital. Aber zugleich mit der Bejahung des Risikos wurde die Vorsicht die Unternehmenstugend par excellence. Von der war im letzten Jahrzehnt wenig zu spüren. Man darf bezweifeln, daß die Metapher des Schiffbruchs für das, was heute mit den Vermögen geschieht noch plausibel ist. Es sind keine Schiffe gesunken, es müssen jetzt lediglich die surrealen Bewertungen revidiert werden, die während der letzten zehn Jahre die meisten ökonomischen Transaktionen verzerrt haben, insbesondere bei Betrieben, Immobilinen und Kunstwerken. Die riesenhaften Pseudevermögen, die dabei "angehäuft" bzw. an der Börse fingiert wurden, sind auf einen sinnvollen Maßstab zurückzukorrigieren...


(Bild, Eugéne Delacroix, Schiffbruch)Man muß endlich auch die Wirtschafts-wissenschaften als Wissenschaften vom Irrationalen rekonstruieren, als eine Theorie des leidenschaftsgetrie- benen  und zufälligen Verhaltens.  Die Psychologie beschreibt den Menschen seit über hundert Jahren als animal irrationale. Etwas Ähnliches zeichnet sich jetzt langsam in den Staats- und Wirtschaftswissenschaften ab. Auch dort porträtiert man den Menschen zunehmend als ein Wesen, das sich so gut wie nie als vernünftiger Langzeitrechner verhält. Der wirkliche Mensch, wie er außerhalb der theoretischen Modelle erscheint, lebt durch die Leidenschaften, aus dem Zufall und dank der Nachahmung. Für aufklärerisch gesinnte Menschen ent- halten diese Diagnosen starke Zumutungen. Wir wollen als vernünftig, organisiert, selbstdurchsichtig und originell gelten und sind in Wahrheit unberechenbar, chaosanfällig, trüb und repetitiv. Die Staaten treten jetzt als Business Angel für etablierte Firmen und Banken auf - man kannte diese Funktion bisher nur für Startup-Unternehmen, denen man schutzengelhaft mit Risikokrediten unter die Arme greift. Im Grunde ist die Frage nach dem Staat in diesem Kontext absurd. Jeder nicht völlig verblendete Beobachter hat immer gewußt, daß ohnen den rahmengebenden, regu- lierenden, aufsichtsübenden Staat nichts geht, keine Eigentumswirtschaft, kein Markt, kein Kapitalgeschäft. Dank der Krise kommt jetzt der Staat endlich aus seinem Versteck. Er gibt wieder zu verstehen, daß er auch als Marktteilnehmer eine entscheidende Rolle spielt - nicht nur als Umverteiler, sondern auch als Bürge und Käufer letzter Instanz. Er ist in Wahrheit der einzige Multimiliardär, der imponiert. Dennoch ist er vom Zeitgeist der letzten dreißig Jahre zum dummen August gemacht worden.

Ungleichheiten haben dort am stärksten zugenommen, wo sich der Staat am meisten einschüchtern ließ. Bei uns ging das so weit, daß der Staat unter dem Druck der Ideolo- gien seine Definition als Hüter des Gemeinwohls vergessen hat. Er stellte sich ohn- mächtig und verlor effektive Definition aus dem Auge. Unseligerweise mißversteht man den Sozialismus seit langem bloß als Parteiprogramm oder als soziale Bewegung, in Wahrheit ist der moderne Staat per se funktional sozialistisch oder besser semi- sozia- listisch, so wie die moderne Gesellschaft per se kapitalistisch funktioniert. Aus der Verkennung dieser Sachlage durch die politische Klasse erklärt sich ein Gutteil der ak- tuellen Staatsschwäche. Man hielt den Sozialismus für historisch widerlegt und begriff nicht, daß er keine Ideologie ist, die kommen und gehen kann, sonder die funktionale Dimension der Staatlichkeit selbst darstellt, mit der das Gemeinwesen steht und fällt. Ein Politiker auf der Höhe wäre jetzt jemand, der den klaren Blick auf dieses Szenario besitzt.  Er würde verstehen, daß der erfolgreiche Staat eine semisozialistische Agentur ist, die sich Jahr für Jahr die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts holt, um ihre Ordnungs- und Umverteilungsaufgaben zu erfüllen. Das kann sie nur im Bündnis mit einer belastbaren Ökonomie, die sich die regelmäßgie Schröpfung gefallen läßt. Bei einer Staatsquaote um fünfzig Prozent ist die öffentliche Hand nicht so jämmerlich, wie sie seit langenm tut.

Wir werden sehe, ob die massiven Staatshilfen und Konjunkturprogramme, die überraschenderweise über Nacht auf die Beine gestellt werden konnten, die gewünschten Wirkungen zeitigen. Ein positiver Effekt ist schon jetzt evident: Der dumpfe Riese Politik wacht auf. Inszwischen weiß man auch etwas besser als nach dem Schwarzen Freitag, wie man mit Panikökonomie und Abschwung umgeht. Im Alltag muß der Staat als Steuersouverän permanent den Balanceakt zwischen zwei gleich gefährlichen Suggestionen meistern. Die eine sagt: Erhöhe die Steuern, damit die Umverteilungsmasse wächst, die andere: Senke die Steuern, damit die Konjunktur in Schwung kommt. Aber das ist die Essenz der Moderne selbst - das ständige Hin und Her zwischen Entlastung und Wiederbelastung..."