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Hinein in die Gesellschaft

- Von Krisen zur Erneuerung - von Lothar Roos (emeritierter Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Bonn) über Verirrungen der Zunft und die Stabilisieruntg der Soziallehre durch Johannes Paul II. und Benedikt XVI. (Rheinischer Merkur, 31, 2008/Auszug)




(siehe auch: www.martingerhardtcsii.  de  csii)

"Wer nach den sozialethischen Grundlagen des gesellschaftslichen Wiederaufbaus in Deutschland nach den geistigen Verwüstungen des Nationalsozialismus fragt,der trifft unweigerlich auch auf herausragende Repräsentanten der katholischen Soziallehre: auf die Jesuiten Gustav  Gundlach und Oswald von Nell-Breuning, die Dominiknaner Eberhard Welty und Arthur Utz, auf Johannes Messner in Wien und Joseph Höffner in Münster. Letzterer saß in den wissenschaftlichen Beiräten dreier Bonner Ministerien und zählt zu den "Vätern" der 1957 unter Konrad Adenauer eingeführten "dynamischen Rente". Die von Walter Eucken und Alfred Müller-Arnack  konzipierte und von Ludwig Erhard realisierte Soziale Marktwirtschaft folgte jenem Weg, den schon Pius XI. in der Enzyklika "Quadragesimo anno" eingeschlagen hatte,
wonach wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit nur miteinander verwirklicht werden können. Die Sozialverkündigung der Kirche war also in den zwei Jahrzehnten nach dem Krieg angesehen und recht erfolgreich.

Das änderte sich jedoch schnell mit jenen geistesgeschichtlichen Veränderungen, die schließlich zur "Kulturrevolution" der 1968-Jahre führten.Sie brachte auch die Kirche und ihre Sozialverkündigung in Bedrängnis. Die klassische naturrechtliche Argumentation geriet unter den Verdacht des "naturalistischen Fehlschlusses". Man bezweifelte, ob es überhaupt ein "Wesen" des Menschen und damit zusammenhängende antrhopologische Konstanzen von universeller Gültigkeit geben könnte. Die innerkirchlich angebotenen Interpretationsmuster der gesellschaftlichen Situation und die daraus folgenden Konsequenzen boten zunehmend das Bild eines widersprüchlichen Pluralismus.

Dies läßt sich beispielhaft zeigen an der Reaktion auf die Sozialenzyklika "Sollicitudo rei socialis" Johannes Pauls II. von 1987: Während die meisten Kommentatoren bei der Interpretation der Enzyklika an der "klassischen" Erkenntnistheorie der katholischen Soziallehre festhielten (Kommentar von Korff und Baumgartner), veröffentlichte der Frankfurter Sozialethiker Friedhelm Hengsbach im März 1988 in der "Orientierung" einen Beitrag, der Begriff und Sache der kirchlichen Sozial-"Lehre" in Gänsefüßchen setzte, die Vorstellung einer "übergeschichtlichen Kontinuität" dieser Lehre ablehnte und nur noch eine gesellschaftskritisch argumentierte prophetische Sozialverkündigung zuließ. Träger dieser Sozialkritik sind die "kollektiven Subjekte" gesellschaftlicher Be- freiung, also klassisch die Arbeiterbewegung, dann die Frauenbewegung und die Dritte-Welt-Bewegung. Inzwischen sind die ökologische Bewegung und die Gen- der-Perspektive hinzugekommen. Die Kirche habe die Aufgabe, die Theorien die- ser "kollektiven Subjekte" zu respektieren und die entsprechende Praxis vor dem "Sinnhorizont des christlichen Glaubens" zu unterschreiben.

Der Enzyklika wirft Hengsbach vor, ihre "schöpferischen Neuansätze, bleiben verengt, unsicher relativiert, an einigen Stellen gar mit höchst regressiven Elementen naturrechtlicher Sozial-'Lehre' zugeschüttet". Folgerichtig vermeiden die Vertreter und Vertreterinnen dieser Position den Begriff "Soziallehre" und sprechen bewußt nur von "Sozialethik" - so in dem von Hengsbach und anderen 1993 herausgegebenenen Band mit dem bezeichnenden Titel "Jenseits Katholischer Soziallehre".

Vor diesem Hintergrund entwickelte sich innerkirchlich auch zwei systematische "Alternativen" zur bisherigen Soziallehre der Kichre. Als erste entstand die Politische Theologie von Johann Baptist Metz. Im Kontext der "negativen Dialektik" der Frankfurter Schule bleibe nur noch eine "negative Vermittlung des Humanismus" möglich, also ein Mitleiden mit den Opfern der Gegenwart und der Geschichte sowie ein Anprangern der bestehenden Unrechtstrukturen im Geist des Evangeliums. Damit ist zwar eine der drei Aussagenweisen der kirchlichen Sozialverkündigung angesprochen, nämlich die prophetische Kritik offensichtlicher Unrechtstatbestände. Auf welchem Weg aber soll dem Unrecht begegnet werden? Dazu hat die Kirch in ihrer klassischen Soziallehre "Grundsätze der Gerechtigkeit und Billigkeit" erarbeitet, die in einer ethischen Güterabwägungslehre zu bestimmten Postulaten führen. Dieser eigentliche Kern der katholischen Soziallehre wird von Metz als "überholt" angesehen.
 
Die Befreiungstheologie hat in ihrer ersten Phase für die Bewußtsseinsbildung, die pastorale und soziale Erneuerung der Kirche in Lateinamerika eine wichtige Rolle gespielt. Ihre Problematik als untauglicher Ersatz für die Soziallehre der Kirche liegt in zwei Momenten: zum einen in der Formulierung des zu erreichenden "Endziels". Es besteht in einer Gesellschaft gemäß dem Evangelium, die in einem "weltgeschichtlichen Befreiungsprozeß" (Hegel) erreichtbar erscheint. Damit tritt an die Stelle der Ethik die Geschichte, wie Joseph Ratzinger damals feststellte: "Die Geschichte ist die eigentliche Offenbarung und so die wahre Auslegungsinstanz der Bibel."
Problematisch ist zum anderen die Art und Weise, wie die "ethische Lücke" zwischen der zutreffenden prophetischen Sozialkritik und dem gewünschten Ziel erreicht werden soll. Die Sozilaverküngung der Kirche sucht diiese Lücke mit einer sozialethischen Güterabwägungslehre zu schließen, die radikale Befreiungstheologie füllt sie mit der marxistischen Analyse. Damit wäre die "Praxis des Klassenkampfes", so Ratzinger, der hermeneutische Schlüssel zur "Vergegenwärtigung des christlichen Glaubens".

Beide Ansätze, die Politische Theologie und die Befreiungstheologie, führten innerhalb der Fachvertreter für Christliche Gesellschaftslehre zu einer Spaltung. In den zwei Jahrzehnten zwischen dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der Wahl Johannes Pauls II. zum Papst (1978) war ein Zustand weitgehender "Verwirrung" darüber eingetreten, was die katholische Soziallehre sei.
 
Eine Regeneration könnte nur möglich werden, wenn Identität und Kontinuität der Soziallehre wiedergewonnen wurden. Dem kam zunächst zugute, daß die "Halbwertzeit" der Alternativen recht gering war. Die politische Theologie war ein europäisches Denkprodukt. Anders die Befreiungstheologie. In ihrer radikal marxistischen Variante war sie eine große Versuchung und Hoffnung für die Armen in Lateinamerika. Befreiungstheologen wie Leonardo Boff kannten kaum die reale Lage der Arbeiterschaft im Ostblock. Für die Bischöfe Lateinamerikas war es eine völlig neue Erfahrung, als der 1978 gewählte Papst Johannes Paul II. seine berühmte Ansprache bei der Dritten Vollversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Puebla/Mexiko am 28. Januar 1979 hielt. Ihm gelang es, die große Mehrzahl der Bischöfe von der Problematik bestimmter befreiungstheologischer Ansätze zu überzeugen und sie für die Soziallehre der Kirche zu interessieren. Diese Ansprache bedeutete die Wende für die Kirche in Lateinamerika und für alle Menschen, die Ideologen aufgeseßen waren.
Daß die katholische Soziallehre nach zwei Jahrzehnten vielfacher Verwirrung wieder in das öffentliche Bewußtsein der Kirche und der Gesellschaft zurückkehrte, verdanken wir vor allem Johannes Paul II., der in seinen Ansprachen und Predigten unermüdlich für die Sozialverkündigung der Kirche eintrat. Zeitgeschichtlicher Hintergrund war die immer deutlicher werdende Fortschrittskrise. Das neuzeitliche Wissenschaftsverständnis glaubte, seine Rationalität in sich selbst zu tragen. daraus entstand die Handlungsmaxime: Was technisch und ökonomisch möglich ist, wird auch verwirklicht - ohne Rückfrage nach dem humanen Sinn des jeweiligen "Fortschritts".

In dem Maße aber wie auf diesem Weg nicht nur Nützliches und Gutes, sondern auch Bedrohliches und Böses entsteht, lassen sich Wert- und Sinnfrage aus dem Konzept der öffentlichen Vernunft nicht mehr ausklammern. Genau an dieser Stelle setzt Johannes Paul II. mit seiner theologisch-philosophischen Antropologie an. Hundert Jahre nach "Rerum novarum" schreibt er in der Enzyklika "Centesimus annus"  (1991): "Wenn es keine transzentente Wahrheit gibt, der gehorchend der Mensch zu seiner vollen Identität gelangt, gibt es kein sicheres Prinzip, das gerechte Beziehungen zwischen den Menschen gewährleistet". Weil Gott allen Menschen die Fähigkeit zur Erkenntnis der Wahrheit mitggegeben und die Unterscheidung von Gut und Böse in ihr Herz gelegt hat, folgt auch, daß die Würde des Menschen und die damit gegebenen Rechte und Pflichten grundsätzlich von allen erkannt werden können. Ausdrücklich betont deshalb Johannes Paul II.  die Aufgabe der Humanwissenschaften und der Philosophie, "die zentrale Stellung des Menschen in der Gesellschaft zu deuten und ihn in die Lage zu versetzen, sich selbst als 'soziales Wesen' besser zu begreifen". Hier berühren sich die Wege der Vernunft und des Glaubens.

Dem widerstreitet ein anthtopologischer und sozialethischer Relativismus, in dem Johannes Paul II. die Hauptgefahr für einen wahren Humanismus sieht. Demgegenüber sei eine "Philosophie von wahrhaft metaphysischer Tragweite" erforderlich, wie er in der Enzyklika "Fides et ratio" (1998) feststellt. Er hat damit die Soziallehre der Kirche wieder auf ihr sicheres Fundament gestellt: Eine des Menschen würdige "Identität" mit sich selbst läßt nur gewinnen aus jener "Erinnerung", die sich auf eine christliche Naturrechtsphilosophie zurückführt, für die Thomas von Aquin der bis heute wichtigste Wegbereiter bleibt.
Auf dieser Basis wendet sich die Soziallehre der Kirche an "alle Menschen guten Willens. Johannes Paul II. war sehr daran gelegen, die Soziallehre der Kirche wieder stärker in das Bewußtsein der Menschen zu bringen. Deshalb gab der den Auftrag zu einem "Kompendium der Soziallehre der Kirche", das ein Jahr vor seinem Tode erschien. Ähnlich wie zur Zeit der Reformation der Katechismus die Wahrheiten und Werte des christlichen Glaubens in verständlicher Sprache den suchenden Menschen vermittelte, so sollte mit dem Kompendium den Menschen heute die Sozialverkündiung der Kirche erschlossen werden.

Ganz im Sinne des Vorgängers sprach Joseph Kardinal Ratzinger unmittelbar vor der Papstwahl am 18. April 2005 von der "Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten läßt".Diese Diktatur könnne in religiöser und ethischer Gestalt auftreten. Der ethische Relativismus, mit dem sich die katholische Soziallehre auseinandersetzt, leugnet die Fähigkeit des Menschen, wahre und universal gültige Aussagen über sich selbst zu machen und so seine eigenen Würde zu erkennen und - soweit möglich - durch eintsprechende gesellschaftliche Ordnung zu sichern.
Gegenüber dem Einwand, eine solche Wahrheit über den Menschen könne man nicht "beweisen", antwortet Joseph Ratzinger im Dialog mit Jürgen Habermas, nicht nur die technische Vernunft finde ihre Wahrheit über das Exoeriment. Auch die praktische (oder moralische) Vernunft bedarf eines Experiments:" Sie braucht das Experiment des bestandenen Menschseins, das nur aus der bestandenen Geschichte selbst kommen kann. Darum war die praktische Vernunft immer eingeordnet in den großen Erfahrungs- und Bewährungszusammenhang ethisch-religiöser Gesamtvisionen".  Die Einsicht in die Würde des Menschen und in die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Gewährleistung werde "nicht erfunden, sondern gefunden". Daraus folgt: "Es gibt also in sich stehende Werte, die aus dem Wesen des Menschseins folgen und daher für alle Inhaber dieses Wesens unantastbar sind". Im Unterschied zur abendländischen Geschichte werde jedoch heute das Naturrecht "nicht mehr als das allen Einsichtige, sondern eher als eine katholische Sonderlehre betrachtet. Dies bedeutet eine Krise der politischen Vernunft, die eine Krise der Politik als solcher ist. Es scheint nur noch die parteiliche Vernunft, nicht mehr die wenigstens in den großen Grundordnungen der Werte geimeinsame Vernunft aller Menschen zu geben."
 
Alle diese "Vorarbeiten" finden prägnanten Ausdruck in der ersten Enzyklika Benedikts XVI., "Deus caritas est" (2005). Dort kommt er unter der Überschrift "Gerechtigkeit und Liebe" auf die Methodik der kathlischen Soziallehre zu sprechen: "Die Soziallehre der Kirche argumentiert von der Vernunft und vom Naturrecht her, das heißt von dem aus, was allen Menschen wesensgemäß ist." Was Gerechtigkeit sei, "ist eine Frage der praktischen Vernunft; aber damit die Vernunft  recht funktionieren kann, muß sie immer wieder gereinigt werden, denn ihre ethische Erblindung durch das Obsiegen des Interesses und der Macht, die die Vernunft blenden, ist eine nie ganz zu bannende Gefahr. An dieser Stelle berühren sich Politik und Glaube." Der Glaube eröffne "neue Horizonte weit über den eigenen Bereich der Vernunft hinaus... Aber er ist zugleich auch eine reinigende Kraft für die Vernunft selbst".

Einen Höhepunkt dieser Argumentationreihe stellt Benedikts Ansprache vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 18. April 2008 dar. Dort behandelt er die Menschenrechte als Ausdruck des Naturrechts. Diese Verwurzelung aufzugeben, "würde bedeuten, ihre Reichweite zu begrenzen und einer relativistischen Auffassung nachzugeben, derzufolge Bedeutung und Interpretation dieser Rechte variieren könnten und derzufolge ihre Universalität im Namen kultureller, politischer, sozialer oder sogar religiöser Vorstellungen verneint wird." Benedikt fragt kritisch, "ob ein rein rechtspositives und nichtmetaphysisches Verständnis des Menschenwürdeprinzips die Last tragen kann, ein Reich der Unverfügbarkeit zu begründen, welches die Freiheitssphäre der Grundrechtsträger wirksam zu schützen vermag."

Die moderne katholische Soziallehre wurde weltkirchlich mit der Enzyklika "Rerum novarum" (1891) durch Papst Leo XIII. grundgelegt. Ihre Neubelebung nach zwischenzeitlich kritischen Jahren ging und geht von den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. aus. Die in vieler Hinsicht schwierige Situation unserer heutigen Gesellschaft bedeutet eine Herausforderung der Soziallehre der Kirche, sich in Diagnose und Therapie den damit verbundenen Aufgaben zu stellen. Denn die Kirche darf, wie Johannes Paul II. sagt, "den Menschen nicht verlassen".