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Vom Glück, die Vögel zwitschern zu hören



Ursula von der Leyen

 ZEIT, 12, 2009, Auszug

"... Es gehört mehr Mut dazu, der Demenz ins Gesicht zu schauen, als Neben- diskussionen zu führen. Diese Krankheit entwickelt sich in vielen Fällen langsam, breitet sich unaufhaltsam aus, besteht über viele Jahre. sie ist sehr facettenreich, so wie das furchenreiche Gesicht eines alten Menschen. Wegschauen ist zweck- los, Demenz wird uns in den kommenden Jahren millionenfach begleiten. Aber die stark personalisierte Debatte verstellt nicht nur den Blick auf die gesellschaftliche Dimension. Schlimmer noch, sie offenbart auch ein falsches Bild vom Menschen. Nur aus der Fülle der vollen geistigen Leistungsfähigkeit heraus kann die Ein- stellung stammen: Wenn ich mein kognitives Leistungsniveau nicht mehr halten kann, dann verliere ich meine Würde. Tatsächlich ändern sich im Verlauf der De- menz die Kriterien für "ein gutes Leben" fundamental. Wenn eine Demenz spür- bar wird (wer weiß schon, wann sie beginnt?), dann treten am Anfang Verun- sicherung und Depression auf. Die Persönlichkeit wird in hohem Maße verletzlich, oftmals treten einzelne vertraute Charakterzüge deutlich hervor. Nicht selten aber verändert sich die Persönlichkeit tiefgreifend. Der Demenzkranke spürt als Erster, daß er sich auf "sich" nämlich auf seine kongitiven Fähigkeiten, immer weniger verlassen kann. Dies belastet Kranke wie Angehörige gleichermaßen.

Die Auseinandersetzung mit solchen Veränderungen ist ein langwieriger und schmerzvoller Prozeß, der nur gelingen kann, wenn die betroffenen Menschen in ihren Bemühungen, die bestehende Grenzsituation zu verarbeiten, wahrge-nom- men, akzeptiert und unterstützt werden. Die Demenz verändert die Sicht auf die Dinge. Worte schwinden, die Namen, Orte und Zusammenhänge geraten in Vergessenheit. Eine düstere, ja grauenhafte Vorstellung für uns Gesunde. Aber auch nur für uns. Für Menschen, die an Demenz erkrankt sind, schwindet mit fortschreitender Krankheit auch die scharfkantige Sicht auf sich selbst. Ge- dächtnis und Denken verblassen. Neben der Trauer, neben der Angst sind viel- fältige Glücksgefühle, Glücksmomente möglich. Glück kann auf einer anderen, einer neuen Ebene empfunden werden. Der Vogel, der singt, kann der früher so kundige Ornithologe schon lange nicht mehr benennen, aber das es um ihn herum zwitschert, läßt ihn gleichwohl lächeln.



Das Heidelberger Institut für Gerontologie unter Leitung von Professor Andreas Kruse (Foto)hat in den letzten Jahren eine enorm wichtige Grundlagenforschung zur Erfassung der Lebensqualtität Demenzkranker geleistet. Wir wissen nun, daß an Demenz Erkrankte sehr genau erfahren und erfühlen, wie mit ihnen umge- gangen wird. Die Güte ihrer Lebensqualtität unterliegt ganz anderen Faktoren als noch in gesunden Tagen: Scheinbar aphatische Demenzkranke empfinden meß- bar mehr Glück und Zufriedenheit, wenn ein anderer Mensch gezielt auf ihre individuellen Erlebnisse, Erfahrungen und Vorlieben eingeht. Aus den Befunden von Professor Kruse ergibt sich eine sehr ernst zu nehemende Verantwortung; sowohl für jeden Einzelnen wie auch für die Solidargemeinschaft und die Politik. Unser Umgang mit dieser existentiellen Krankheit wird entscheidend dadurch be- stimmt, welches Bild vom Menschen und seiner Würde wir haben. Die Wahrheit ist: Niemand von uns kann vorhersehen, wie er in einer Grenzsituation empfindet. "Wir werden uns selbst, indem wir in die Grenzsituation offenen Auges eintreten", sagt der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers (Foto unten), und auch in die- sem Geiste müssen wir Demenz öffentlich diskutieren. Ist es etwa kein Ausdruck von Lebensqualtität, wenn ein Demenzkranker, der früher ein brillianter Theo- retiker war, heute akribisch Kinderpuzzle legt? Die Gewichte haben sich von der Geistes- in die Gefühlswelt verschoben, der Mensch kann  weiter Glück erleben.



Diese Überlegungen zeigen uns, daß wir nicht nur unseren Umgang mit de- menzkranken Menschen, sondern auch - sehr viel umfassender - unser Men- schenbild reflektieren müssen. Grenzen gehören zu unserem Leben. Wenn das akzeptiert ist, entsteht auch in einer öffentlichen Debatte über eine so Furcht einflößende Krankheit Raum für Zwischentöne.  Das dürfen wir nicht kleinreden. Sie gehen mit, sie müssen. Sie erleben jeden Tag fortschreitend den Verlust der Worte und des Zusammenhanges,  wenn etwa gefragt wird, was ein Zwieback ist. Die Demenz besteht schon Monate, vielleicht Jahre lang, ehe sie von Außen- stehenden wahrgenommen wird. Angehörige erleben das Versickern der em- phatihischen Fähigkeiten, wenn der Demenzkranke weder ihre Freude noch ihren Zorn oder ihre Verzweiflung wahrnimmt. Das schmerzt nicht nur, es erschöpft auch zutiefst. Die Emotionen der Angehörigen laufen ins Leere.

Als Gesellschaft dürfen wir nicht zulassen, daß Angehörige von Demenzkranken in eine Spirale zunehmender Isolation geraten. Sie brauchen Menschen, mit de- nen sie darüber reden können, was sie wahrnehmen. Sie brauchen Wegge- fährten, die sie trösten, wenn sie den geliebten anderen, den jetzt Demenz- kranken, wie einen dummen Jungen angefahren haben. Sie brauchen andere Menschen, die ihnen Zeit (freie Zeit) ermöglichen. Zum Luftholen. Um über die kleinen und großen Malheurs nicht nur noch weinen, sondern gemeinsam zu lachen. Die professionelle und ehrenamtliche Betreuung und Versorgung der pflegenden Angehörigen ist ein vielversprechender und zutiefst menschenlicher Ansatz. Feingeistige Debatten über die Köpfe der Kranken und Angehörigen hinweg helfen niemandem. Angesichts der demographischen Entwicklung ist es höchste Zeit, daß sich unsere Gesellschaft mit dieser Krankheit differenziert auseinandersetzt. Höchste Zeit, daß wir aufhören, über den Verlust an Genie zu jammern oder gar Sterbehilfe als Ausweg zu erwägen.

Was wir brauchen, ist mehr Wissen über die Krankheit. Wir brauchen bessere Strukturen, die im Alltag mit Demenzkranken helfen. Wir brauchen ein tragfähiges Koordinatensystem, das die Menschenwürde Demenzkranker nicht infrage stellt, sondern einem fragwürdigen Idealtypus "Würde" mit den Worten Schillers entge- gentritt: "Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst."

Ärzte, Pflegepersonal, ehrenamtliche Demenzbegleiter, aber auch das persön- liche Umfeld benötigen festen moralischen Rückhalt für die mühevolle, aber loh- nende Aufgabe, für die Lebensqualität ihrer Familienmitglieder und Patienten zu kämpfen.

Ratschläge7Tipps zum Themengebiet Pflege siehe meine Homepage

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