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"Religion war nie verschwunden"


Odo Marquard , der Altmeister der Skepsis versucht, Gott zu vertrauen

Rheinischer Merkur, 4, 2009 "Wie religiös sind die Deutschen"? Spezial (Fragen von Wolfgang Thielmann)

RM: Sie haben mehrfach gesagt, daß Sie gern in einer Gesellschaft leben, die vom Christentum geprägt ist. Warum?

Marquard: Der Satz stammt von meiner Frau. Ich habe die Formulierung aber gern übernommen, weil sie mir einleuchtet. Das Christentum unserer Kultur steht für eine menschliche Gesellschaft.

RM: Wie erklären Sie sich die neue Religiosität in Europa?

Marquard: Mein theologischer Kollege Trutz Rendtdorff hat zu Recht gesagt, daß die Diskussion um die neue Religiosität eine Intellektuellenfrage ist. Aus dem täg- lichen Leben ist Religion nie verschwunden. Normal ist nicht der Atheismus, nor- mal ist die Religion.


RM: Sie haben eine religiöse Gewaltenteilung gefordert. Ist sie nähergekommen? Neben den Kirchen trat der Islam, und es gibt eine frei vagabundierende Reli- giösität.

Marquard: Meine Formulierung von damals war - mit Absicht - überzogen. Für mich ist zunächst wichtig, daß Religion vielfältig vorhanden ist, nicht daß wir einer einzigen Vorstellung hinterherlaufen, weil sie so einen starken Eindruck macht. Das Christentum hat die Gewaltenteilung ja schon in sich vollzogen. Er vertritt streng genommen keinen Monotheismus, und es hat sich in Konfessionen auf- geteilt.







 


RM: Die nicht an die Konfession gebundene Religiosität scheint mitunter nicht rational. Es gibt eine neue Lust an Engeln, Mystik, an Versenkung und Vereh- rung. Ist Ihnen das fremd?

Marquard: Zumindest habe ich Verständnis dafür entwickelt. Mit 81 Jahren wird für mich die Frage dringlich, was nach diesem Leben kommt. Meine Antwort ist ein Versuch, auf Gott zu vertrauen, ohne daß ich hier mit Gewißheiten dienen kann. Mein Leben lang hat mich die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes , der Theo- dizee, interessiert. Es gibt darauf keine Antwort. Mir bleibt ein angefochtener Glaube.

RM: Käme heute jemand zu Ihnen und fragte Sie, worauf er vertrauen kann, was würden Sie antworten?

Marquard: Ich würde antworten: Fragen Sie schnellstens jemand anderen, der Ih- nen mehr Gewißheit vermitteln kann. Meine Fragen und Zweifel werden immer stärker. Da fühle ich mich wie der Philosoph Sören Kierkeraard: Ich möchte Men- schen Aufmerksam machen auf die wichigen Fragen, aber seinen Weg, seine Form muß jeder selber finden. Warum sollte ich einen jungen Menschen behel- ligen mit den Fragen eines alten Mannes?




  

Odo Marquard lehrte bis 1993 Philosophie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen (Lahn).